Rufus

Rufus-lostontrails

Als Eli auf den Parkplatz neben dem kleinen viereckigen Gebäude parkte, zeigte die Uhr am Armaturenbrett ihres Autos 17.15 Uhr. Wie jedes Jahr hatte sie sich nicht die Mühe gemacht, die Uhr im Auto umzustellen. In Wirklichkeit war es erst 16.15 Uhr. Aber die Tage waren anfangs Dezember schon ziemlich kurz und in einer Stunde würde es vermutlich bereits dunkel sein.

Im Moment hütete sie den Hund von Markus, der für 3 Wochen nach Mexiko geflogen ist. Er brauchte nach seiner schwierigen Zeit eine Pause und einen Tapetenwechsel. Sein Hund heisst Rufus und er ist ein 9-jähriger Doodel mit einem guten Herz. Somit war sie täglich gezwungen, an die frische Luft zu gehen. Er liebte sie und genoss es, täglich seine Runden zu drehen. Und auch Eli mochte es, jeden Tag an die frische Luft zu kommen. Aber er hatte auch eine eifersüchtige Ader. Kaum hatte sie Besuch, wich Rufus nicht mehr von ihrer Seite. Fast wie ein kleiner Aufpasser – Eli musste schmunzeln.

Nur schade, dass sie das Lauftraining nicht mit den Hunde-Runden verbinden konnte. Sie befürchtete, dass Rufus bei einer Laufeinheit zusammenklappen würde. Schliesslich war sein Herrchen alles andere als sportlich. Sie war sich sogar sicher, dass Rufus schon seit Jahren keine längeren Strecken mehr gerannt ist. Somit beliess sie es beim Spazieren. Denn das letzte, was Markus jetzt bräuchte, wäre seinen Hund zu verlieren.

Als sie Rufus an der Leine hatte, schloss sie das Auto ab und bog auf den kleinen Landwirtschaftsweg ab. Der Weg verlief entlang eines Flusses, der mit Bäumen und Sträuchern besäumt war. In den letzten Wochen hatte sie festgestellt, dass immer mehr Bäume von Bibern angeknabbert wurden. Die Folge war, dass sich kleine Pools und gestaute Abschnitte bildeten. Etwa 150 Meter vor ihr machte der Weg eine Biegung nach links. Ausserdem wechselte der Weg auf die andere Seite des Baches. Dahinter sah sie zwischen den Bäumen durch, dass ein Jogger mit einer roten Jacke ein paar hundert Meter vor ihr lief. Sie musste lächeln… Anscheinend gab es doch noch andere Menschen, die sich bei Kälte und tristem Grau vor die Tür wagten.

Eigentlich war sie hier, um abzuschlten, und nicht um auf Ihr Handy zu starren. Aber da sie mal wieder den grössten Teil des Tages in Meetings sass, wollte sie noch kurz ein paar Nachrichten beantworten. Also starrte sie in den nächsten Minuten auf ihr Handy. Sie war seit dem Mittag nicht dazu gekommen, zu antworten. Ausserdem hatte sie vorhin im Radio gehört, dass es eine neue Serie gab, die gerade sämtliche Rekorde auf Netflix brach. Um das nicht zu vergessen machte sie sich kurz eine Notiz dazu. Und Weihnachten stand auch schon wieder vor der Tür … F*ck! Jedes Jahr musste sie sich last Minute um den Kram kümmern. Nachdem sie die nötigsten Nachrichten beantwortet hatte, riss sie eine eingehende Email aus den Gedanken. Der Projektleiter sandte Ihr eine Liste mit Tasks, die ASAP bearbeitet werden müssen. Genau ASAP… Wie alles andere auch!!!

Eli besann sich, was sie hier genau tat!? Eigentlich war sie an der frischen Luft, um Energie zu tanken, um Bewegung zu haben und um auf andere Gedanken zu kommen. Auf jeden Fall nicht, um sich um weitere Arbeiten zu kümmern. Und noch weniger, um sich darüber aufzuregen! Sie steckte das Handy in die Tasche. Während Rufus vom Bach zurück auf den Weg lief, versuchte sie sich zu fassen. Wenn sie den Rest des Tages geniessen wollte, sollte sie sich erst einmal beruhigen. Und danach würde sie Massnahmen ergreifen, um in ihrer Freizeit weniger an die Arbeit zu denken. Als Erstes wird sie das Arbeits-Mail von Ihrem Handy entfernen – schliesslich ist es ihr Handy.

Als sie auf den Weg vor sich blickte, sah sie, dass der Abschnitt vor ihr relativ schlammig war. Und die Teile, welche nicht aus Schlamm bestanden, bestanden aus Pfützen. Sie balancierte zwischen zwei Pfützen hindurch und stellte fest, dass auch der Schlamm recht zäh und schon fast zugefroren war. Die Pfützen bestanden aus einer eingetretenen Eisschicht. Sie dachte daran, wie sehr sie es liebt, am Ende einer Laufrunde, auf solchem Terrain zu laufen. Zu diesem Zeitpunkt war es ihr meist egal, wenn sie komplett durchnässt wurde oder wenn ihre Schuhe einmal kalt geflutet wurden. Anders als am Anfang einer Laufrunde. Sie hasste es, ihre Longruns bei strömendem Regen zu starten oder vom Wetter überrascht zu werden. Nässe und Kälte machten ihr nichts aus, aber sie mochte es nicht, schon am Anfang durchnässt zu sein.

Bei der nächsten gefrorenen Pfütze konnte sie nicht widerstehen. Sie legte den Schuh leicht auf die Eisschicht und liess das Eis zerspringen. Knack … wie sie diesen Ton liebte! Aber irgendetwas hatte sich dem Ton beigemischt. Im gleichen Moment wie die Eisfläche brach war ein anderer Ton aus der Ferne zu hören. Sie blickte sich um, konnte aber nirgendwo etwas ausmachen. Ein komisches Gefühl mischte sich bei, aber sie konnte es nicht richtig deuten. Dann blickte sie zurück zum Fluss und folgte dem Ufer, bis sie Rufus entdeckte. Er hatte die Leine ausgezogen und lief ca. 10 Meter vor ihr. In diesem Moment hatte sie das Gefühl, in der Entfernung eine Bewegung wahrgenommen zu haben. Ca. 250 Meter den Weg entlang gab es eine Stelle, an der ein kleiner Nebenfluss von rechts dazu floss. Auch dieser wurde von Büschen und Bäumen umgeben.

Hatte sie sich nur getäuscht oder vielleicht die Bewegung eines Tieres in der Entfernung wahrgenommen? Wie absurd wäre es, wenn sich da jemand verstecken würde. Andererseits ist es auch nicht der Zeitpunkt um hier jemandem alleine zu Begegnen. Zwar hat sie einen Hund dabei, aber Rufus ist alles andere als ein angsteinflössender Hund, wenn es um so etwas geht. Sie fragte sich sogar, ob er überhaupt Knurren oder sonst ein erschreckendes Geräusch erzeugen konnte.

Sie entschied sich, kein Angsthase zu sein. Aber sie beschloss auch Distanz zu wahren und wachsam zu bleiben. Erst benahm sie sich, als hätte sie nichts bemerkt. Eli blickte sich um, wandte sich gelegentlich ab und schaute in andere Richtungen, ohne jedoch die Stelle lange aus den Augen zu lassen. Sie erinnerte sich, dass sie früher einmal einen Kurs besuchte, wie man Menschen beschatten konnte. Zwar war das mehr auf Ladendiebe bezogen, aber was auf kleinem Raum funktioniert, geht auch auf eine grössere Distanz.

Sie rief Rufus zu sich hin und blickte nach unten. Durch ihre Haare hindurch konnte sie die Stelle im Blick behalten, ohne dass jemand merkt, dass sie in diese Richtung schaut. Dann nahm sie wieder eine Bewegung wahr. Jetzt war sie sich sicher… Irgendwer oder irgendwas versteckte sich hinter dem Gebüsch beim kleinen Zufluss. Eli spürte, dass sie nervös wurde und sie hat schlagartig weiche Knie gekriegt. Sofort drehte sie um und zog an der Leine, damit Rufus ihr folgt. In diesem Moment fragte sie sich auch, wo der Läufer mit der roten Jacke hin ist!? Jedoch könnte es auch sein, dass er schon um die nächste Biegung gelaufen war. Egal, für sie ist es Zeit, zu gehen. Besonders, da die Dunkelheit im Anmarsch war. Bisher war es zwar nur grau, aber jetzt näherte sich eine Front von westen her und das dämmte das spärliche Licht noch mehr ein.

Sie beschleunigte ihren Gang und sah zu, dass Rufus in ihrer Nähe blieb. Der Parkplatz war knapp einen Kilometer entfernt, also kein Grund zur Sorge! Zur Not würde sie die Distanz auch laufen können – Hauptsache Rufus kam schnell genug hinterher. Nach ein paar Schritten warf sie einen Blick hinter sich und was sie sah, versetzte sie in eine Art Schock. Sie traute ihren Augen nicht. Wo vorher ein verlassener Weg zu sehen war, stand jetzt ein dunkel gekleideter Typ mitten auf dem Weg. Sie drehte sich um und sah ihn an. In diesem Moment lief er los in ihre Richtung. Eli war verblüfft, aber sie fasste sich wieder und begann loszulaufen. Sie zog ein paar mal ruckartig an Rufus Leine, um ihn aus seinem gemütlichen Gang zu reissen und sagte dazu: “Komm Rufus, Zeit zu gehen!”

Eigentlich war sie kein ängstlicher Mensch, aber das Letzte, was sie jetzt wollte, war eine Konfrontation mit – wer war der Typ überhaupt!? Und was wollte er von Ihr? Was auch immer es war, sie hatte keine Lust darauf, das Hier und Jetzt herauszufinden. Sie versuchte, schneller zu werden, aber der Hund kam nicht hinterher. Es fühlte sich schon jetzt an, als würde sie Rufus hinter sich herziehen. Er tat ihr leid, aber sie konnte nicht anders. Sie musste hier weg. Und zwar schnell! Als sie erneut nach hinten blickte, sah sie, dass der Verfolger sich schnell näherte. Er war gross, dunkel gekleidet und trug eine Mütze, die viel von seinem Kopf bedeckte. Dann sah sie noch etwas, der Typ hatte ein Grinsen auf dem Gesicht! Eli spürte, dass sich ihre Nackenhaare aufstellten und es lief ihr ein kalter Schauer über den Rücken. Sie raffte sich zusammen und erweiterte die Leine. “Los Rufus, gib Gas!” rief sie ihm zu. Sie musste den Hund mitziehen.

Der Typ näherte sich immer mehr und sie merkt, dass sie ihm nicht bis zum Auto entkommen würde. Geschweige noch einsteigen und den Hund ins Auto kriegen. Eli überlegte, was sie tun konnte. Sollte sie den Typen konfrontieren und sehen, ob sie sich behaupten kann? Irgendwas musste sie unternehmen! Sie würde nicht entkommen. Sollte sie also besser gefasst sein, als überrascht zu werden? Im Bruchteil von Sekunden zog ein Film vor ihren inneren Augen ab. Sie sah sich selbst als Kind. Und zwar an dem Tag, an dem sie die Lektion gelernt hatte, die ihre Eltern ihr über Monate eingetrichtert hatten. “Wenn niemand für Dich einsteht, musst Du selbst für Dich einstehen.”

Sie war davor immer wieder das Opfer von kleinen Sticheleien in der Schule. Nichts Schlimmes, aber sie hatte sich nie gewehrt. Sie war zu lieb. Sie wollte es immer allen recht machen. Aber am Schluss war sie immer wieder das Opfer von kindischen Streichen und wenn jemand gemobbt wurde, ging es auf ihre Kappe. Aber an diesem einen Tag, war das Mass voll. Sie war endlich für sich selbst eingestanden. Sie hatte sich gegen Ivo, den Jungen aus der Parallelklasse behauptet. Und von da an hatte sie sich Respekt erkämpft. Sie hat sich noch 2-3 weitere Male gewehrt, dann haben sich ihre Schulkollegen ein anderes Opfer gesucht. Denn Täter suchen keine Gegner, sondern Opfer!

Sie fasste einen Entschluss – auch wenn heute niemand da war… sie würde für sich selbst einstehen! Sie war kein Opfer. Nie mehr! Punkt. Noch rannte sie weiter, aber sie überlegte genau, was sie tun würde. Sobald der Typ in einer sicheren Entfernung war, würde sie sich umdrehen und ihn mit lautem Schreien konfrontieren. Auch wenn niemand in der Nähe war, um sie zu hören, hoffte sie, dass laute Rufe und Schreie ihn abschrecken würden.

Sie schaute über ihre Schulter und der Typ war knapp 25 Meter hinter ihr. Sie drehte sich schlagartig um und blieb auf der Stelle stehen. Sie schrie ihn an: “STOP! WAS WILLST DU?” Er stoppte abrubt und sah auf einmal verblüfft aus. Er regte sich nicht, und sein Grinsen war wie festgefrohren. Er wirkte zwar verblüfft, aber es sah nicht aus, als würde er sich gleich umdrehen und zurückgehen. Eli sah, dass er eine dunkle Jacke trug, die von innen rot durchschimmerte. Es war also doch der Typ mit der roten Jacke, er hatte sie nur umgedreht. Sie sah, dass nun auch Rufus geschaltet hatte, dass hier etwas nicht stimmte. Er stellte sich vor sie und hatte eine Stellung eingenommen, die sie nie zuvor bei ihm gesehen hatte. Man hörte ein leises Knurren von ihm. Als der Fremde eine Bewegung machte, drangen aus Rufus Schnauze ein lautes Kläffen.

Wow, was ist das denn!? Solche Laute hatte sie nie zuvor von ihm gehört. Und seine Haltung hielt den Typen auf Distanz. Dann geschah etwas, das Eli nicht deuten konnte. Denn sie sah eine Veränderung im Gesicht des Mannes. Er sah einerseits verwirrt und gleichzeitig auch entsetzt oder schockiert aus. Sie fragte sich, was sich gerade verändert hatte und was ihn offensichtlich verstörte. Sein Grinsen war verschwunden und schlagartig wurde sein Gesicht blasser.

Eli fixierte ihn weiter mit ihren Augen und wollte den Blick nicht von ihm abwenden. Aber plötzlich hörte sie ein entferntes Geräusch hinter sich. Sie drehte sich leicht zur Seite und wagte einen kurzen Blick über die Schulter. Danach drehte sie sich augenblicklich zurück zu ihm. Was sie sah, gab ihr Hoffnung. Unmittelbar hinter ihr lag die Biegung im Weg und durch die Bäume konnte sie erkennen, dass von hinten ein Radfahrer angefahren kam. Sie hielt ihren Angreifer weiterhin fixiert und lief langsam rückwärts weg von dem Typen. Rufus hielt seine Stellung und er knurrte bei jeder Regung des Typen.

Jetzt oder nie, dachte sie sich. Eli drehte sich um und lief auf den Radfahrer zu. Sie hob ihre Hand und versuchte dem Radfahrer zu signalisieren, dass er anhalten solle. Als er sie bemerkte war er fast erschreckt und Eli redete auf ihn ein. Der Radfahrer hielt an und nahm die Kopfhörer aus dem Ohr. “Entschuldigung, ich hatte nicht erwartet, um diese Zeit noch jemanden hier anzutreffen.” sagte er. “Was ist los?” Eli widerholte, was sie zuvor schon gesagt hatte: “Ich brauche Hilfe, der Typ da hat mich bis vor kurzem verfolgt.” Schlagartig wechselte sich der Gesichtsausdruck des Radfahrers. Zuvor sah er freundlich und wohlwollend aus, aber in diesem Moment verfinsterte sich seine Miene. Er sprang von seinem Gravelbike und stellte sich neben sie. Dann ging er langsam auf den Typen zu und begann auf ihn einzureden. Was er hier tat… was er wolle… wer er sei…

So wie der Retter sich benahm, erkannte sie sofort: Wenn der Typ weiter stress macht, hat er soeben einen Gegner gefunden. Er war gross, kräftig gebaut und er sah alles andere als ängstlich aus. Entweder der Typ zieht leine oder er wird sich auf eine Konfrontation einlassen. Es vergingen nur wenige Sekunden, bis der den Angreifer anherrschte: “Verschwinde, da hin wo du hergekommen bist – und zwar sofort! LOS… ich widerhole mich ungerne!”

Der Angreifer hatte die Botschaft verstanden und liess sich das nicht zweimal sagen. Es schien ihm zwar nicht zu schmecken. Aber er war nicht auf der Suche nach einem Gegner wie diesem. Er spuckte auf den Boden und drehte sich um. Dann lief er ein paar Schritte zurück, bevor er sich dem Fluss näherte und darüber sprang. Er rannte über das offene Feld in Richtung Waldrand.

Als er gute 50 Meter entfernt war, drehte sich der Biker zu ihr um und sagte: “Entschuldige… ich bin übrigens Daniel! Wer war dieser Typ?” Eli erzählte ihm, wie es dazu gekommen und was davor geschehen war. Daniel begleitete sie zurück zum Parkplatz während sie den Vorfall schilderte. Als sie da ankamen, sahen sie zwei weitere Autos die daneben parkiert waren. Eli machte Fotos der beiden Wagen und sagte zu Daniel, dass sie den Vorfall bei der Polizei melden würde. Sie bedankte sich für die Hilfe, verstaute den tapferen Rufus im Auto und verabschiedete sich von ihrem Retter.

Kommentar verfassen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Nach oben scrollen