Als Renzo die Türe abschliesst und den Schlüssel versteckt, bereut er nicht, eine zusätzliche Schicht angezogen zu haben. Er ist es zwar gewohnt, auch bei Kälte zu laufen – also eigentlich läuft er bei jedem Wetter! Ganz besonders im Moment, denn er ist dabei, seinen Rekord zu knacken. Heute ist der 24. und er steht schon bei 156 Km! In der Regel schafft er zwischen 80 und 160 Kilometer im Monat. Diesen Monat wird er die gebotenen 164 KM übertreffen, sofern nicht noch etwas dazwischen kommt.
Bei der letzten Tour war er während zwei Stunden bei warmem Sonnenschein unterwegs. Heute ist es zwar wieder windstill, aber ein zäher Nebel steht in der Senke unter seinem Haus. Was solls, Vitamin D wird er heute in flüssiger Form zu sich nehmen müssen! … das bringt der Herbst nun mal mit sich. Und das ist auch, was ihn von den anderen Läufern in seiner Clique unterscheidet. Er läuft nicht nur zwischen Frühling und Herbst oder bei sonnigem Wetter. Er läuft immer – sofern er nicht gerade eine hartnäckige Erkältung ausbrütet.
Aber auch er kocht nur mit Wasser. Und nach dem hektischen Tag gestern und der ermüdenden Rückfahrt könnte er sich problemlos auch mit ein wenig Sonnenschein abfinden. Was solls … man kann halt nicht alles haben. Also läuft er los, in Richtung Nebelsuppe.
Auch wenn er fast jedes Wetter diesem hier vorzieht, wohnt Renzo schon lange genug in der Region, um zu wissen, dass Nebel hier einfach dazugehört. Ausserdem könnte er die gewohnte Strecke auch schon fast mit verbundenen Augen laufen. Er erinnert sich an die gestrige Rückfahrt und kann sich erinnern, dass er die TrueCrime Folge noch gar nicht zu Ende gehört hat. Das ist doch eine willkommene Ablenkung und genau das Richtige für das öde grau um ihn herum. Es gibt Tage, da konzentriert man sich aufs Laufen – und dann gibt es Tage, an denen sammelt man Kilometer. Der heutige Tag gehört zu den letzteren.
Er steckt die AirPods ein und springt ein paar Minuten zurück, um den letzten Teil der Geschichte nochmal zu hören. Die Story packt ihn ungemein und er merkt, dass es ihn innerlich aufwühlt. Er kennt dieses Gefühl und stellt es immer wieder fest bei TrueCrime Folgen. Die einen lassen ihn ziemlich kalt … aber es gibt Folgen, die machen ihn regelrecht nervös. Er kann nicht genau sagen, woran es liegt und was der Unterschied ist. Vielleicht liegt es an den Parallelen zu seinem Leben. Oder dass er eine blühende Fantasie hat und sich sehr gut in diese Geschichten hinein versetzen kann.
Als der Podcast zu Ende geht und er einmal mehr die innerliche Unruhe wahrnimmt, bereut er schon fast, dass er sich die Bilder davon in den Kopf geholt hat. Renzo zieht die AirPods aus und brettert die nächsten Kilometer runter. Das Gedankenkarussell nimmt seinen Lauf. Immer wieder hat er das Gefühl, nicht alleine hier zu sein. Jedes Mal, wenn er sich jedoch umdreht, sieht er, dass sich kein zweiter in diesem Nebel verirrt hat. Alles nur unbegründeter Verfolgungswahn. Er läuft weiter. Ein paar Minuten später muss er den linken Schuh neu schnüren. Immer das Gleiche mit diesem Schuh… Entweder er sitzt zu locker oder zu fest! Als er sich nach unten bückt, um den Schuh zu binden, blickt er erneut um sich.
Wieso fühlt es sich an, als würde ihn jemand beobachten? Was für ein Scheissgefühl! Er ist froh, dass er seine Gedanken noch einigermassen kontrollieren kann. Und er besann sich, dass es ja gar nicht in einer gefährlichen Situation steckt. Das sind nur Wahnvorstellungen und hier ist weit und breit niemand. Und wenn schon, wenn ihm jemand etwas Schlechtes wollte, müsste ihn dieser erst einmal einholen. Er kommt an eine Verzweigung auf dem Landwirtschaftsweg und läuft links auf einem kleinen Pfad die Böschung hoch. Danach rennt er geradeaus, bis er ein paar hundert Meter später in den Wald tritt.
Nach den ersten Schritten auf dem Waldboden freut er sich über das gefallene Laub, das den Boden bedeckt. Der Anblick der braunen Blätter brachte zumindest ein wenig Farbe und Kontrast zum grauen Nebel hervor. Bei der ersten Verzweigung hielt er sich nach rechts und er folgte der Route, die langsam in Richtung Waldmitte anstieg. Plötzlich hörte er das Knacken eines trockenen Astes, nicht weit von ihm entfernt! Er blieb stehen und sah sich um. Das muss aus dem Abschnitt neben ihm gekommen sein. Erneut ein Geräusch. Knack. Raschelnde Blätter … dann blieb es still!
Renzo hielt die Luft an und er blieb wie angewurzelt stehen. Was sollte er tun? Fliehen? Davon rennen? Oder nachsehen, was die Geräusche verursacht hat? Sein Puls schlug schneller … der Verfolgungswahn von zuvor kam wieder hoch. Ein kalter Schauer läuft ihm über den Rücken und seine Nackenhaare stellen sich auf. Was soll das? Er ist doch sonst nicht so ängstlich!
Als er sich umentschied und behutsam dem Dickicht näherte, aus dem das Geräusch kam, achtete er darauf, selbst möglichst wenig Geräusche zu verursachen. Behutsam hob er seine Füsse an. Er achtete darauf, wo er hintrat, um Geräusche zu vermeiden! Dann noch einen Schritt. Doch dieses Mal verursachte das Verlagern des Gewichtes ein Rascheln. Er hob den rechten Fuss an und touchierte einen morschen Ast. Der Ast brach in zwei Stücke und er merkte, dass sich in unmittelbarer Nähe etwas in Bewegung setzte. Renzo blickte auf und erschrak dermassen, als direkt neben ihm ein Reh aus dem Dickicht sprang. Das Muttertier hatte zwei Rehkitze im Schlepptau. Und so schnell, wie die drei angeschossen kamen, waren sie auch schon wieder verschwunden!
Phuuu… Was für eine Aufregung! Sein Herz raste. Er lehnt sich an einen Baum und versucht, sich zu beruhigen. Er kann nicht anders als zu lachen. Wie doof er doch war! Er sollte es besser wissen und bei diesem Setting nicht irgendwelche „Grusel-Geschichten“ oder „Thriller“ hören.
DIe Szene erinnert ihn daran, wie er sich als Jugendlicher in der Nacht Horror-Filme angesehen hatte. Kein Wunder, wenn man danach schlecht träumt oder nicht einschlafen kann!