Das Knarren

Das Knarren-LOT

Yes… endlich war es so weit! Die Woche war wie im Flug vergangen und der Sonntag stand vor der Tür. Robert blickte auf die Sachen vor sich auf dem Tisch. Riegel, Gelees und ein Apfel. Er füllte eine Flasche mit Elektrolyte und warf sie mit dem Rest in eine Tasche. Danach packte er die Sonnenbrille, ein paar Taschentücher, und Geld ein uns verschwand ins Bad.

Nachdem er sich die Zähne geputzt hatte und auf der Toilette war, strich er sein Gesicht mit Sonnencreme ein. Er schnappte er sich die Trail-Schuhe, den Rucksack und die soeben gefüllte Tragetasche und öffnete leise die Eingangstüre. So leise wie er konnte, schlich er sich hindurch. Er gab sich Mühe, die Tür möglichst ohne Geräusche wieder zu verschliessen. Es war noch ziemlich früh und seine Kids waren sicher noch im Tiefschlaf. Aber wenn er etwas vermeiden wollte, war es, dass die Kinder an einem Sonntag um 7.30 Uhr wach wurden. Und viel mehr noch, dass seine Geliebte so früh mit den Kids aufstehen müsste.

Dann stieg er ins Auto. Er tippte “Broc Gare” in sein Navi, startete seinen Lieblings-Podcast und fuhr los. Der Morgen war kühler als erwartet, und der Wind war alles andere als ideal für eine bewaldete Route. Aber wenn er die geplante Tour jetzt nicht machte, würde er es vermutlich nicht mehr vor dem Wintereinbruch schaffen. Ausserdem war er noch 46 Km entfernt bis zum Start seiner Tour. Vielleicht war es da auch nicht ganz so windig. Seine heutige Runde führte Robert auf knapp 1600 müM. Als er das Gleiche vor 14 Tagen machen wollte, lag ab knapp 1500 müM schon der erste Schnee. Er wollte nicht riskieren, die Runde auf die nächste Saison zu verschieben.

Auf der Hälfte der Fahrt dimmte sich die Musik im Auto. Ein Signalton, der immer auftauchte, wenn eine Push-Nachricht kam oder er eine Nachricht erhielt. Mist, dachte er! Sind sie doch aufgewacht!? Aber als er auf das Handy schielte, war es nicht eine Nachricht seiner Frau. Sondern, der Signalton, dass sein Handy in den Stromsparmodus gewechselt hatte. Oh nein, auch das noch! Schnell steckte er das Telefon für die restlichen 25 Minuten ein. Mindestens 40 % wollte er geladen haben, wenn er für eine längere Tour in die Berge fuhr. Er hatte schon oft erlebt, wie schnell der Akku schwinden kann, wenn das Telefon ständig auf Netzsuche ist.

Als er das Auto am Bahnhof parkte, stand die Uhr auf 08.26 Uhr. Er öffnete seine App, um den Parkplatz zu bezahlen. Sein Akku war zu 33 % geladen. Nicht ideal… aber auch kein Grund zur Sorge. Schliesslich hatte er die Route auf seiner Uhr und er würde das Handy nicht zur Navigation benötigen. Er schnürte die Schuhe, schloss das Auto ab und schulterte den Rucksack. Danach startete er die Navigation und folgte der Tour entlang der Bahnlinie. Als der Fussweg auf die Strasse kam, lenkte ihn die Route nach links und am Ende der Strasse nach rechts.

Nach etwas mehr als einem Kilometer liess er das letzte Haus hinter sich. Vor ihm lag die Wildnis und in den nächsten 20 Km würde er vermutlich nur eine Handvoll Menschen treffen. Er folgte der Linie auf seiner Uhr und diese führte ihn zum Eingang einer grossen Schlucht. Auf einem Schild stand in grossen Buchstaben: “Gorges de la Jogne”.

Minuten später war Robert umgeben von Felswänden, die links und rechts neben ihm in die Höhe ragten. Ein paar Meter unter ihm lag das Flussbeet. Der kräftige Fluss erzeugte ein konstantes Rauschen. Die Wege schlängelten entlang der Felswände und führten durch kleine Tunnel, die gerade gross genug waren, damit Menschen aufrecht durchgehen konnten. Es war eine abgefahrene Umgebung… Faszinierend und einschüchternd zugleich. Er stellte sich vor, wie die Wege, Brücken und Tunnel gebaut worden waren. Ihn überkam ein seltsames Gefühl und er kam sich klein und machtlos vor zwischen den Felswänden.

Der nächste Tunnel war noch länger und dunkler. Er hatte keine Lampe dabei, also verwendete er die Taschenlampe seines Handys. Zwar war er nicht ängstlich, aber vermutlich war er heute der erste Passant. Und wer weiss, ob darin nicht gelegentlich ein Tier Unterschlupf suchte. Als er die Schlucht passiert hatte, stieg der Weg weiter an. Die Sonne drang zwischen dem waldigen Abschnitt hindurch. Einmal mehr war er fasziniert von der Schönheit der Trails.

Die leuchtenden Farben in der Morgensonne. Gefallene Blätter, letzte Blüten der Saison am Wegrand und die Wurzeln der hohen Bäume neben dem Weg. Seine Route zog sich entlang eines kleinen Flusses und brachte ihn auf eine Bergstrasse. Plötzlich merkte Robert, dass er nicht mehr ganz auf dem richtigen Weg war. Zwar verlief der Weg in die gleiche Richtung, aber auf der Uhr sah es aus, als würde er 15 – 20 Meter neben der Strasse laufen.

Das kannte er bereits von früheren Touren. Das letzte Mal verpasste er die Abzweigung auf einen kleinen Pfad. Er ärgerte sich damals, als der Trail neben ihm plötzlich eine Biegung machte und seine Strasse weiterhin geradeaus führte. Am Schluss führten die beiden Routen ihn immer weiter auseinander. Er musste umdrehen und den letzten steilen Anstieg zurücklaufen, um wieder auf den richtigen Trail zu kommen. Das wollte er dieses Mal unbedingt vermeiden.

Er pausierte die Tour und holte kurz sein Handy hervor. Dann prüfte er, was die Differenz der beiden Wege war und er stellte fest, dass sie später wieder zusammenführten. Also entschied er, nicht zurücklaufen, um den anderen Trail zu nehmen. Er trank ein paar Schlucke aus der Trinkblase und folgte der Strasse weiter. Der Weg schlängelte sich in Serpentinen den Berg hinauf. Ab und zu passierte er einen verlassenen Hof und immer wieder drehte er sich um, um die Aussichten mit Fotos festzuhalten. Es war einfach zu schön und er war glücklich, dass er die Tour heute durchgezogen hat.

Er sah, dass seine Strasse weitere Biegungen geplant hatte. Da keine Gefahren vor ihm lagen, entschied sich Robert, den Podcast von zuvor weiter zu hören. Seine Lieblingspodcaster hatten über Bücher gesprochen, in denen es um Attentate auf frühere US-Präsidenten ging. Zwar nicht sein Lieblingsthema, aber den beiden zuzuhören machte einfach Laune! Die Zeit verging und er kämpfte sich den Hügel zum höchsten Punkt hinauf. Zwar war der Anstieg zu steil, um alles zu laufen. Aber die Mischung aus Power Hiking, Laufen und Wandern half, dass er gut voran kam.

Versunken in seinen Podcast passierte er einen Hof, bei dem Kühe in einem Auslauf standen. Er konnte zwar kein Auto sehen, aber offensichtlich wurde der Hof betrieben. Ein paar Minuten später riss ihn ein kurzes Hupen aus seinen Gedanken und dem Gespräch des Podcasts. Er drehte sich um und sah hinter sich ein Auto. Er stellte sich an den Strassenrand und winkte den Insassen darin als sie neben ihm durchfuhren. Er fragte sich, ob die sich wohl verfahren hatten? Wenn, dann waren sie ganz schön weit vom Weg abgekommen! Egal, sein Ziel war klar und er wollte weiter hoch.

Er legte ein wenig zu und lief den nächsten Abschnitt nach oben. Nach ein paar Biegungen sah er das Auto von zuvor neben einem alten Hof. Kurz danach endete die Strasse und seine Route führte über moorartige Felder. Das war zwar schon eine Art Wanderroute, aber alles andere als ein ausgetretener Wanderweg. Er legte eine Pause ein, ass den Apfel und einen Müsliriegel. Dann kämpfte er sich den letzten Anstieg nach oben. Heute war sein Ziel nicht der Gipfel, sondern eher die Senke zwischen den zwei hohen Felsen.

Als er am höchsten Punkt seiner Route war, konnte er sehen, dass die Gruppe aus dem Auto auf dem Weg zum rechten Gipfel waren. Robert war verblüfft. Die sahen ganz anders aus als sattelfeste Wanderer oder gar Kletterer. Und sie trugen auch nicht grossartig Equipment bei sich. Also entweder die wussten, was sie taten oder sie hatten keine Ahnung! Er war sich fast sicher, dass diese Routen mindestens in die Kategorie T5 gehörten.

Er trank ein paar grosse Schlucke, genoss ein letzes Mal den Ausblick auf dieser Seite. Dann machte er sich daran, die Route auf der Rückseite wieder runter zu wandern. Anfangs war das Terrain sehr unwegsam. Er ging in kleinen Schritten auf dem matschigen Boden und kämpfte sich zwischen hochgewachsenen Pflanzen durch. Danach traf er auf eine Kuhherde und er musste sich regelrecht zwischen den Kühen hindurchzwängen. Aber sie liessen ihn in Frieden und grüssten mit einem lautem “MUUUHHHH”. Als der Weg etwas flacher wurde, konnte Robert das erste Mal abwärts rennen. Wobei rennen schon fast übertrieben war. Die Wege waren weiterhin uneben und er musste sich konzentrieren um nicht abzuknicken.

Dann erreichte er den Wald. Er nahm die Sonnenbrille ab und verstaute sie im Rücksack. Da es allmählich kühler wurde und er im Schatten lief zog er sich einen dünnen Schal an. Die Route folgte weiter dem Trail und führte in Schlangenlinien bergab. Da vor einigen Minuten sein Podcast zu Ende war, wechselte er auf ein Lauf-Playlist. Das hatte er zwar noch nie gemacht, aber er fühlte sich gerade nach einem Motivationsschub und da war Musik ideal für geeignet.

Er merkte auch, dass er sich auf diesem Abschnitt weniger konzentrieren musste. Das einzige worauf er achten wollte, war, nicht zu schnell zu werden. Der Sound trug ihn über die nächsten Kilometer und als “Wheels” von den Foo Fighters kam, drehte er die Lautstärke weiter auf. Wer auch immer diese Playlist gemixt hat, hat heute genau seine Stimmung getroffen. Der Wind nahm zu und es gab gelegentlich kräftigere Böen. Dann sah er, wie sich von unten ein andere Läufer näherte. Er stoppte den Sound und als sie sich kreuzten grüssten sie sich nur knapp.

Als er dem anderen Läufern nachschaute, war Robert froh, dass er bereits den grössten Teil hinter sich hatte. Er startete den Sound erneut und stellte sich vor, wie er sich beim Bahnhof zur Belohnung eine Cola aus dem Automaten kaufen würde. Jetzt wurde der Weg richtig angehm, um ein paar schnellere Kilometer zu laufen. Er kam voll in den Flow – ein schöner Tag, gute Trails und toller Sound, was will man mehr. Doch in diesem Moment beschleunigte sich der Wind und es zog ihm regelrecht um die Ohren. Als Robert um sich blickte sah er, dass sämtliche Pflanzen und Bäume bei stärkeren Böen verbogen wurden. Beim nächsten staken Windstoss hörte er ein lautes Knarren… Er war sofort alarmiert und versuchte sich so schnell wie möglich zu orientieren.

Woher kam dieses Geräusch? Er entfernte die Ohrstecker und stoppte auf der Stelle. Dann blickte er sich erneut um. Die Windböen nahmen erneut zu. Da war es wieder: “knarrrrr”. Als würde ein Baum ins fallen geraten. Er war umgeben von hohen Bäumen. Der nächste Gedanke war: “schnell, weg hier!” Er machte behutsam ein paar Schritte vorwärts. Der Wind liess nach. Dann kam die nächste Böe… und wieder das Geräusch. In diesem Moment nahm er im Augenwinkel eine Bewegung wahr. Instinktiv sprang er davon weg. Er machte einen Satz zur Seite und rutschte den Hang hinunter. Zwar konnte er sich fangen, aber er landete in einem schmerzhaften Misstritt und prallte ein paar Meter die Böschung runter mit seiner Seite gegen einen Baum.

Als er sich gefangen hatte, sah er, dass der Baum, dem er soeben ausgewichen war komplett entwurzelt und umgefallen da lag. Sein Atem stockte und sein Puls raste! Woow… das war Haarscharf. Wenn er nicht weggesprungen wäre, würde er jetzt unter diesem Baum liegen. Ihm wurde kurzzeitig schwindlig und er sass sich auf den Boden. Dann nahm er ein paar Schluck aus der Trinkblase und versuchte, sich zu fassen. Er hatte ein riesiges Glück und war dankbar, in diesem Moment nicht getroffen worden zu sein. Als er sich wieder etwas beruhigt hatte, stellte er sich hin um zu prüfen, ob der Fuss nach dem Misstritt noch belastbar war. Der Fuss schmerzte ein wenig, aber er konnte ihn belasten und damit gehen. Sollte er seine Frau anrufen, damit sie ihn irgendwo auf der Route abholt und zu seinem Auto fährt??

Dann schaute er auf sein Handy… Mist, was für ein sh*t! Sein Handy hat keinen Empfang und die Batterie zeigt 4 %! Na zum Glück hatte er diese Playlist noch entdeckt. Er ärgerte sich, schaltete das Handy aus und steckte es in seine Tasche. Den Rest der Route kam Robert vor wie eine Ewigkeit. Aber heute hatte er eine wichtige Lektion gelernt. Wälder, abgelegenen Trails und unübersichtliches Terrain ist nicht der Richtige Ort für Musik, Podcasts oder Audiobücher!

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