Als Helen um die letzte Kurve läuft, kann sie bereits sehen, dass sich die Bäume vor ihr langsam lichten. Sie kann förmlich spüren, wie die Wärme der Sonne näher kommt. Der letzte Abschnitt lag ausschliesslich im Schatten und sie war umgeben von der kühlen Morgenluft. Jetzt freut sie sich, den schattigen Abschnitt hinter sich zu lassen und für die nächsten Kilometer in der Sonne zu laufen. Als der Trail aus dem Wald führt, tritt sie langsam ins Freie und bleibt stehen. Vor Ihr liegt ein wunderschönes Tal mit weiten Wiesen. Zu ihrer Rechten, sieht sie den Gipfel, der heute den Höhepunkt ihrer Tour werden soll. Wow, obwohl es schon Anfang Mai ist, liegt im oberen Drittel immer noch Schnee.
Sie folgt mit ihrem Blick dem Pfad ins Tal und sie kann Ihre Route bis zum Fuss des Berges ausmachen. Zwar kann sie erkennen, dass ein grosser Teil des Trails nicht im Schnee liegt. Aber im oberen Bereich wird sie nicht darum kommen, auch auf Abschnitten mit Schnee zu laufen. Zum Glück sind heute auch in der Höhe milde Temperaturen gemeldet. Sie ballt ihre Faust und redet selbst zu: “…das wird schon gut gehen! Zur Not habe ich eine zusätzliche Schicht dabei!”
Helen verspürt Respekt vor dem Gipfel, will sich aber jetzt nicht den Spass vermiesen. Schon als sie ihren Freundinnen aus der Laufgruppe davon erzählt hatte, haben diese versucht, sie davon abzubringen. “…übernimm dich nicht! …ist das nicht eine Nummer zu gross für Dich! …wieso willst Du das riskieren!” Mann… Wieso versuchen immer alle, sie klein zu machen? “Stop!” dachte sie sich! “Das sind Eure Grenzen, nicht meine! Und wenn ihr nicht hier seid, könnt ihr auch nicht mitreden.”
Ohne weiter darüber nachzudenken, packt sie ihre Sonnenbrille aus und läuft los. Über die nächsten Kilometer führt der Trail leicht bergab und die merkt, wie sie richtig in Fahrt kommt. Es erinnert sie an einen Downhill-Lauf, den sie vor einigen Jahren gemacht hatte. Auch damals war sie in einen richtigen Flow-Zustand gekommen. Jedes Mal, wenn man an diesen Punkt kommt, könnte man nur noch grinsen und immer weiterlaufen. Sie geniesst das leichte Traben auf dem verlassenen Weg und tankt noch einmal Sonne, bevor gleich der Anstieg beginnt.
An der Basis des Berges springt sie leichtfüssig und lächelnd an zwei Wanderern vorbei, die sie ungläubig ansehen. Helen fragt sich, ob ihr Dress wohl unangebracht aussieht, oder warum die beiden sie so lang angesehen hätten? Egal, sie wusste, was sie wollte und das lag gute 1000 Höhenmeter oberhalb von ihr. Als sie weiter nach oben stieg, merkt sie, dass in der Höhe der Wind zunahm und stärkere Böen aufkommen. Auch das kannte sie bereits und sie liess sich nicht aus der Ruhe bringen.
Sie kam allmählich in Gebiete mit Schnee am Rande des Pfades und zum Teil auch auf dem Trail. Aber als sie jeweils kurz antestete, ob sie genügend Grip darauf hat, stellte sie fest, dass der Schnee sulzig und weich war. Als der Trail entlang des Berges auf die andere Seite führt, kommt ihr eine erneute Windböe entgegen, dieses Mal noch stärker als zuvor. Zwar konnte sie sich gut halten und es bestand vorerst keine Gefahr. Als sie aber den Abhang neben dem Trail runterschaute, wurde ihr mulmig zumute. War es fahrlässig, weiter nach oben zu steigen?
Verunsichert fragte sie sich, was es bedeuten würde, wenn sie jetzt umdreht. Sie hätte ja trotzdem eine tolle Erfahrung und einen ordentlichen Lauf geschafft. Aber eigentlich war es nicht der Plan…. sie war doch für mehr gekommen! Helen lief weiter, und je weiter sie sich hochkämpfte, desto steiniger wurden die Pfade. Aber auch hier bot sich immer genügend Halt und sie hatte nicht das Gefühl, etwas Riskantes zu tun. Ausserdem war sie sich sicher, dass sie heute nicht der erste Läufer oder Wanderer war, der den Gipfel erklimmt. Immer wieder gibt es Spuren im Schnee, die relativ neu aussehen.
Als sie sich über die Baumkante in Richtung Grat bewegt, kriegt sie wieder voller Wucht eine eisige Windböe ins Gesicht. Sie spürt, dass der Wind nicht mehr die milde Frühlingstemperatur von zuvor hatte. Es fühlt sich an, als könnte der Niederschlag hier auch im Mai noch als Schnee zu Boden fallen. Helen hielt kurz inne, sie fragte sich, ob sie sich ducken sollte, um dem Wind weniger ausgesetzt zu sein. Aber in diesem Moment fiel der Wind zusammen. Das gab ihr neuen Mut. Sie war so weit gekommen und Ihr Ziel war zum Greifen nah! Sie setzt ihren Gang fort und macht sich an den letzten Aufstieg zum Gipfel.
Oben angekommen, kann Sie Ihr Glück nicht fassen. Der Ausblick ins Tal und entlang der Bergkette raubt ihr den Atem. Sie sieht, wie dünne Wolkenfetzen an ihr vorbeiziehen. Sie macht die letzten Schritte und berührt mit Ihren Händen das Gipfelkreuz. In diesem Moment fühlt sie sich einfach nur stolz und glücklich. Helen streckt Ihre Arme in Richtung Himmel und merkt, dass alles, was sie gebraucht hatte, genau das hier war.
Als sie den Rückweg antrat, waren ihre Beine müde – aber ihr Herz schlug voller Stolz und Dankbarkeit. Obwohl es technisch anspruchsvolle Abschnitte gab, flog sie leichtfüssig über die Pfade. Sie brachte den ersten Teil hinter sich und sobald die Wege breiter und der Untergrund einfacher wurde, nahm sie Fahrt auf. Mit einem tiefen inneren Lächeln lief sie zurück zum Parkplatz, auf dem ihr Auto stand. Sie zog ihre Schuhe aus, setzte sich in den offenen Kofferraum und belohnte sich mit einer kalten Flasche Cola.