An diesem Morgen ist der See spiegelglatt. Kleine Nebelschwaden, die sich in Richtung Seemitte über der Wasseroberfläche befinden und die Sicht auf die andere Seite trüben. Die Luft ist im Moment noch kühl, aber schon bald wird die Sonne aufgehen und die Kleidung wird nur noch an mir kleben. Der Wetterbericht sagt, dass es heute 32° C werden soll. Ich bin froh, wenn ich zum Mittag zurück bin und den Rest des Tages dem Schatten folgen kann.
Aber egal, im Moment geniesse ich die frische Luft, die bei jedem Atemzug in meine Lungen dringt. Nerviger sind die Mücken und kleinen Fliegen. Jedes Mal, wenn ich einen Moment anhalte oder warte, bis das Auto vorbei ist, damit ich die Strasse überqueren kann. Ich bin seit knapp 23 Minuten unterwegs und meine Uhr sagt 4.28Km – dennoch bin ich bisher noch niemandem begegnet.
Erst hatte ich geplant, die Runde um den See gestern zu laufen, aber ich bin froh, dass ich es auf den Sonntag verschoben habe. Gestern wäre es zwar nicht ganz so heiss geworden. Aber dafür wären mindestens doppelt so viele Autos auf der Strasse gewesen. Und gerade das Mittelstück der 25 Kilometer Runde hat einige Abschnitte entlang der Hauptstrasse.
Je nach Tageszeit und Verkehr ist das nicht weiter schlimm. Aber letztes Jahr hat mich in diesem Bereich eine Gruppe von Oldtimern überholt, die vor mir eine Spur von Abgasen in der Luft stehen gelassen haben. Dieses Jahr werde ich versuchen, diesen Abschnitt anders zu laufen. Ich habe auf der Karte einen kleinen Weg ausgemacht, der mich während mindestens 4 Km durch die Weinreben leitet. Das verlängert zwar die Strecke ein wenig und es bringt mir ein paar zusätzliche Höhenmeter. Aber wenn ich dadurch keiner Abgasspur folgen muss, ist es den Umweg wert.
Nach einer weiteren halben Stunde erreiche ich die Hauptstrasse. Hier ist schon einiges mehr los, als ich es erwartet hätte. Eine Gruppe von Rennrad-Fahrern zieht an mir vorbei. Kurz später bin ich erstaunt, wie viele Autos sich um diese Uhrzeit bereits auf dem Parkplatz der Bäckerei befinden. Zwei Strassen weiter biege ich nach rechts in eine kleine Seitengasse ein und laufe eine Strasse in Richtung Weinreben hoch. Am Ende des Quartiers geht die Strasse über in einen asphaltierten Landwirtschaftsweg. Der anfangs flache Weg steigt über die nächsten 300 Meter zunehmend an, bevor man oben auf die nächste Querstrasse trifft.
Sobald ich den ersten Hügel erklommen habe und oben abdrehen will, fällt mir auf, dass die Strasse nach links abgesperrt ist. Auf den ersten Blick kann ich zwar nichts erkennen. Das Schild an der Absperrung sagt: „Danger” und das Zeichen deutet an, dass es wegen eines kleinen Erdrutsches oder Steinschlags sein könnte. Es ist zwar nur eine kleine Absperrung auf dem Weg, aber irgendetwas sagt mir, dass ich die Warnung nicht ignorieren sollte.
Also laufe ich für die nächsten paar hundert Meter nach rechts in die entgegengesetzte Richtung. Als ich um die nächste Biegung komme, entdecke ich einen kleinen Pfad, der durch die Reben nach oben zur nächsten Strasse führt. Mir ist bewusst, dass der Winzer bestimmt nicht sehr erfreut ist, wenn hier jeder durch seine Reben läuft. Aber ich bin ja nicht jeder, und heute früh wird er eine Ausnahme tolerieren müssen. Denn wenn ich weiter in diese Richtung laufe, um das gesperrte Stück zu umgehen, kann ich auch wieder zurück zur Hauptstrasse.
Nachdem ich die Hälfte des Pfades erklommen habe, höre ich von der Strasse unten ein Kläffen. Ich denke mir nichts weiter dabei – vermutlich nur ein früher Spaziergänger mit Hund. Kurz darauf bemerke ich aber, dass das Bellen lauter und energischer wird. Was ist denn da los? Ich werfe einen kurzen Blick über die Schulter und sehe, dass hinter mir ein Hund ohne Leine den Hügel hoch eilt. Er ist gross, hat ein schwarz braunes Fell und sieht nicht sehr freundlich aus.
Shit … hat der es auf mich abgesehen? Das fehlt mir ja gerade noch! Wer lässt denn hier so einen Hund frei herumlaufen. Gehört der zu einem Hof? Ich merke, dass mein Puls ansteigt und ich gebe Gas, um das Ende des Pfades zu erreichen. Der Hund bellt zwar nicht mehr, aber ich höre, dass er immer noch hinter mir her rennt. Er ist mittlerweile auf dem gleichen Pfad unter mir.
Mist, Mist, Mist!! Was mache ich jetzt!? Mein Puls rast und ich bin sicher, dass ich problemlos den Winzer hätte besänftigen können. Aber der verdammte Köter ist alleine unterwegs. Und er sieht nicht besonders verständnisvoll aus.
Immer noch auf dem Pfad sehe ich mich nach einer Möglichkeit mich zu schützen oder nach einem Stock um. Aber hier gibt es nur Erde, Sand, kleine Steine und die Reben, die an einem Draht befestigt sind. Ich könnte versuchen einen der Pfosten auszuhebeln oder den Teil einer Rebe abzubrechen. Aber ich glaube nicht, dass der Winzer Verständnis dafür haben würde, falls ich doch noch auf ihn treffe.
Aber was mache ich mit dem kläffenden Hund, der ganz offensichtlich immer noch hinter mir her jagt!? Egal, erst mal keine Zeit verlieren und den Pfad hinter mir lassen. Vielleicht gibt es oben auf der Strasse irgendetwas, das mich rettet oder Schutz bietet.
Oben angekommen verschaffe ich mir einen Überblick, wie viel Zeit mir noch bleibt. Der Hund sieht aus wie eine Mischung aus Dobermann und Rotweiler. Ich hatte früher einen Arbeitskollegen mit so einem Tier. “Beauceron” heisst diese Rasse – und er kommt offensichtlich nicht zum Stock spielen. Er liegt jetzt vor dem letzten Anstieg … vielleicht 50 – 60 Meter hinter mir. Ich muss mich beeilen!
Ich scanne meine Umgebung nach etwas, womit ich mich verteidigen kann. Auf die Schnelle finde ich nur einen alten Besen, der neben den Reben am Fels angelehnt ist. Ich schnappe mir den Besen und laufe so schnell ich kann nach links der Strasse entlang. Hier ist es wieder eine asphaltierte Strasse, die leicht bergab führt und ich kann einen kleinen Vorsprung aufbauen. Nach einer Kurve gabelt sich der Weg und ich muss mich entscheiden zwischen links runter oder rechts nach oben.
Die Strasse nach links führt weiter zwischen den Feldern mit Reben hindurch und es gibt kaum Möglichkeiten, um einen Unterschlupf zu finden. Der Weg nach rechts folgt meinem geplanten Trail hoch zum Gipfel, hier gibt es Bäume, Felsen und ich entdecke eine kleine Ruine am Rand der Reben. Aber werde ich diese schnell genug erreichen? Schliesslich habe ich bereits ein paar Kilometer in den Beinen.
Die Hektik, die in den letzten 2-3 Minuten aufgekommen ist, hat einen regelrechten Adrenalinschub bei mir ausgelöst. Schnell entscheide ich mich, für den Weg nach oben. Zwar wird es nicht leicht, den erkämpften Vorsprung zu halten – aber wenn es irgendwie möglich ist, will ich eine direkte Konfrontation vermeiden. Und im offenen Terrain ohne Schutz habe ich keine Chance, zu entkommen. Wenn ich es nur irgendwie schaffe, die alte Ruine zu erreichen. Oder alternativ ein paar Meter auf einen Baum hochzuklettern. Dann bin ich in Sicherheit! Falls er mich vorher einholt, habe ich zumindest den Besen, um mich zu verteidigen.
Ich mobilisiere nochmal alles, was ich habe, und ich spüre, wie die Flaschen im Rucksack gegen meinen Rücken schlagen. Ich höre auch, wie der Hund hinter mir auf der Strasse rennt, aber noch habe ich einen Vorsprung und meine Zuversicht auf Schutz steigt! Der steile Weg ist alles andere als ideal, um schnell voranzukommen. Aber das gilt für uns beide. Ich hatte schon viele Anstiege mit solcher Steigung, aber in der Regel wechsle ich dann vom Laufen zum Gehen. Heute merke ich, wie ich immer noch versuche, Tempo aufzunehmen. Mein Puls dreht durch und mein Atem wird immer schwerer, aber das spielt jetzt alles keine Rolle! Das Einzige, was im Moment zählt, ist dieses verdammte Häuschen zu erreichen!
Eine knappe Minute später erreiche ich voller Panik die alte Ruine. Es ist eigentlich nicht viel mehr als eine Handvoll alte Mauern mit einem Flachdach. Als ich darauf zueile, erkenne ich, dass es drinnen Werkzeuge und ein paar Holzkisten gibt. Vermutlich gehören diese dem Winzer und wurden hier deponiert, um die Pfade zwischen den Reben zu pflegen. Eine Sense, eine Mistgabel, Rechen und so weiter. Die Türe hängt schief in den Angeln und da wo einst ein Fenster war, gibt es nur noch alte Rahmen ohne Fensterflügel.
In der Hektik schwindet meine Hoffnung. Das, was aus der Ferne nach Schutz ausgesehen hat, sieht von hier aus nach einer löchrigen Wand aus. Aber der letzte Kilometer hat viel Kraft gekostet. Also ist das meine beste Option. Ich kann nicht weiter den Berg hoch. Also springe ich mit ein paar schnellen Schritten in die Ruine. Sofort versuche ich, mir einen Überblick zu verschaffen. Ich hebe die schwere Tür an und drücke sie gegen den Rahmen. Erst einmal bin ich in Sicherheit. Wenn auch nur verschanzt in knapp 20 Quadratmeter Ruine.
In diesem Moment hat auch der Köter die Ruine erreicht und ich spüre, dass er gegen die Tür lehnt. Schnell ziehe ich eine paar Kisten zu mir hin und ich schiebe sie vor die Tür. Der Hund draussen merkt offensichtlich, dass er so nicht an mich ran kommt und er knurrt energisch! Das Bellen und Knurren gibt mir eine Gänsehaut. Aber erstmal merke ich, dass sich mein Puls beruhigt. Ich hatte es geschafft. Und ich war in Sicherheit. Also, tief durchatmen und meine Gedanken neu sortieren.
Der Hund springt zwar nicht mehr gegen die Tür, aber er sucht offensichtlich nach einem Weg um zu mir rein zu gelangen. Ich höre, wie er sich auf das Flachdach der Ruine begeben hat. Dann rennt er aussen herum. Er knurrt weiterhin vor sich her. Und ich höre ihn wieder vor der Türe. Kurz später versucht er, durch Springen an die Fensteröffnungen zu kommen. F*CK… Wenn er hier hineingelangt, sitze ich in diese verdammten Ruine der Falle! Nichts wünsche ich mir in diesem Moment weniger!!!