Es hat ihn nicht mehr in Ruhe gelassen. Seit er von diesem Abschnitt gehört hat, hat sich Tom auf die Suche nach mehr Infos gemacht. Auf einem alten Blog-Beitrag hat er wieder von dem verborgenen Trail gelesen. Er kannte dieses Gebiet schon und war schon ein paar Mal hier unterwegs, aber diesen Teil hatte er noch nicht entdeckt. Dann fand er eine alte Landkarte und tatsächlich hat er einen Weg entdeckt, der auf keiner anderen Karte zu sehen ist.
Die Vorfreude war riesig und er war gespannt, was er hier antreffen würde. Als er sein Auto auf dem Parkplatz parkte, war es erst 08.12 Uhr. Es war noch kein anderes Auto hier. Er packte die letzten Sachen in die Trailweste und machte sich auf den Weg. Der erste Abschnitt führte ihn durch den dichten Waldabschnitt, den er schon ein paar Mal gelaufen war. Als er nach 5 Kilometern die Lichtung erreichte, gönnte er sich eine kurze Trinkpause und einen Riegel. Hier auf der Lichtung war die Sonne schon deutlich zu spüren. Im Wald hielt sich die Temperatur immer noch eher kühl.
Das Gebiet wirkte bisher sehr verlassen und Tom fragte sich, ob er heute überhaupt auf einen anderen Läufer treffen würde. Zwar ist das ein viel besuchtes Gebiet, weil der dichte Wald auch an heissen Sommertagen angenehm kühl blieb. Aber es gibt keine grossen Aussichtspunkte, Highlights oder ansehnliche Wanderwege. Also kann es auch passieren, dass man während Stunden auf keinen Wanderer oder Läufer trifft. Das war aber auch, was Tom daran so liebte. Er brauchte keine Menschenscharen, Wandergruppen oder geführte Touren. Und er liebte es, alleine seine Abenteuer zu erleben. Und ein Abenteuer ist der heutige Ausflug allemal.
Er passierte den kleinen Fluss und wusste, dass der verborgene Trail irgendwo auf dem nächsten Kilometer kommen würde. Es gab keine Markierungen oder Stellen, die als Referenz dienten – er musste den Eingang einfach irgendwie erahnen. Das Piepen seiner Uhr signalisierte, dass er 8 Km erreicht hatte. Er versuchte auszumachen, wo er hier nach links abbiegen könnte. An meheren Stellen versuchte er, ein paar Meter durch die dichten Bäume zu gehen um dahinter einen Weg auszumachen. Jedoch ohne Erfolg. Beim vierten Versuch war er sicher, dass hier der Anfang des Weges sein müsste. Er hatte den verborgenen Trail gefunden.
Schon nach den ersten paar hundert Metern fiel ihm auf, dass der Boden hier viel weicher war. Tom kam es vor wie in einem Hochmoor und die Schritte fühlten sich an, als hätte er Federn an den Schuhen. Ausserdem war der Pfad komplett zugewachsen. Er lief auf einer Strecke, die nicht viele Läufer zu sehen bekamen. Er blieb zwar immer wieder an Zweigen mit Dornen hängen, aber immerhin war es kein ausgetretener Trampelpfad.
Tom folgte dem verborgenen Trail nun schon während 3 Kilometern. Gelegentlich musste er erahnen, wo der Weg lang geht. Als er aber an der Stelle angelangt war, hatte er keinen Zweifel mehr, dass er auf dem richtigen Weg war. Der Trail wurde auf den letzten paar hundert Metern immer schmaler. Zuletzt führte der Weg ihn um ein Dickicht. Total untypisch für die bisherige Vegetation stand er plötzlich vor zwei riesigen Felsen. Die Felsen waren auf beiden Seiten zugewachsen und nicht passierbar. Die Felsen standen so nah beieinander, dass er ohne Weste gerade so hindurchpasste. Er war froh, dass er eher schmal war und keine Platzangst hatte. Er zwängte sich zwischen den beiden Felsen hindurch auf die andere Seite.
Die andere Seite sah aus, als wäre er in eine ganz andere Welt eingetaucht. Er nahm sich einen Moment Zeit, um sich zu orientieren und den Anblick von unberührter Natur zu geniessen. Dann holte ihn das Piepen seiner Uhr aus den Gedanken – kein GPS Empfang. Er prüfte sein Handy und stellte fest, dass auch dieses kein Signal hatte. Seltsam, noch als er auf der anderen Seite vor den Felsen stand, hatte er eine Nachricht erhalten. Er steckte das Handy wieder in die Tasche und folgte dem Trail. Dieser Abschnitt war so zugewachsen, dass sich Tom sicher war, dass hier nicht viele Menschen durchgehen. Die Luft roch nach tiefstem Wald und ein leichter Wind zog zwischen den Bäumen hindurch.
Er konzentrierte sich, um nicht vom verborgenen Trail abzukommen. Doch plötzlich hörte er eine leise, kaum wahrnehmbare Stimme. Er blieb sofort stehen und blickte sich um. Er versuchte, seinen Atem zu beruhigen und horchte in die Stille. Nichts ausser das Rascheln von Blättern im Wind. Hatte er sich das nur eingebildet? Behutsam bewegte er sich weiter und er achtete darauf, keine Geräusche zu kreieren.
Ein paar Minuten später sah er, dass der Wald vor ihm lichter wurde. Er näherte sich langsam und mit vorsichtigen Schritten der offenen Lichtung. Bevor er ins Freie trat, sah er, dass sich auf der Mitte der Ebene ein Haus befand. Die Hütte sah alt und verwittert aus. Auf den Balken und dem Schindeldach bildete sich eine dicke Moosschicht. Aber trotzdem hinterliess es nicht den Eindruck, als wäre das Haus unbewohnt. Ein komisches Gefühl überkam ihn und Tom war sich nicht sicher, ob ihn jemand beobachtete.
Als er sich entschloss, näherzutreten, raschelte es hinter ihm. Er drehte sich um und nahm im Augenwinkel eine Bewegung wahr. Sein Herz begann schneller zu schlagen und ein seltsames Gefühl überkam ihn. Dann hörte er die Stimme wieder. Dieses Mal deutlicher: “Du bist nicht der Erste”. Ein Schauer lief ihm über den Rücken. Ist hier noch jemand? Spielt ihm jemand einen Streich? Hatte sich sonst noch jemand hierhin verirrt? Oder wohnte vielleicht ein alter Einsiedler in dieser Hütte? Aber vielleicht war es auch nur sein Verstand, der ihm einen Streich spielte…?
Tom wusste in diesem Moment nicht, was hier vor sich ging. Er wollte sich nicht von seiner Angst lähmen lassen, aber für den Moment hatte er genug gesehen. Dann atmete er ein paarmal tief durch und entschloss sich für seine beste Option: Laufen!
Er dreht sich um und rannte los, mit Vollgas! Das Adrenalin schoss durch seine Venen und er spürt, dass es im Moment keine Grenzen gab. Wenn es sein müsste, könnte er diesen Spurt noch lange weiterführen. Er duckte sich unter den Ästen hindurch und sprang über die Wurzel, Steine und Ranken, die den verlassenen Trail umgaben. Der Weg fühlte sich jetzt viel lebendiger an und er liess nicht nach, bis er beim Durchgang zwischen den Felsen ankam. Dann warf er einen kurzen Blick über die Schultern, um sich zu vergewissern, ob ihm jemand folgte. Aber er konnte niemanden sehen.
Er zwängte sich mitsamt der Trailweste zwischen den Felsen hindurch und war froh, als er mit etwas Druck auf der anderen Seite aus der Öffnung rauskam. Was, wenn er im Stress darin stecken geblieben wäre! Aber jetzt hatte er keine Zeit, sich darüber Gedanken zu machen. Er rann weiter.
Piepend meldete sich sein Uhr wieder. “GPS Signal gefunden” stand auf dem Display. Er zückte sein Handy und auch hier schien er wieder vollen Empfang zu haben. Er steckte das Handy ein und rannte weiter. Tom war noch nicht bereit, eine Pause einzulegen. Für den Moment wollte er nur weg hier.
Als er zurück zum Eingang des verborgenen Trail kam, hielt er kurz inne. Er beruhigte seinen Atem und schaute sich um. Keine Schatten mehr. Keine flüsternde Stimme. Nur seinen leisen Atem und den Puls, den er in seinen Ohren spürt. Er nahm ein paar Schlucke aus seiner Flasche und ass einen Apfel. Dann machte er sich auf den Weg zurück zum Parkplatz. Er blickte sich zwar immer wieder um und vergewisserte sich, dass ihm niemand folgte. Das Gefühl liess ihn noch nicht ganz los.
Zurück beim Parkplatz entspannte er sich allmählich. Unterdessen standen zwei weitere Autos darauf. Tom beendete die Tour auf der Uhr und verstaute wie immer die dreckigen Schuhe im Kofferraum. Er war sich nicht sicher, was er von der Szene auf der Lichtung halten sollte. Trotzdem überkam ihn ein Lächeln, wenn er an das Abenteuer der letzten Stunden dachte.
Was zur Hölle verbirgt dieser Ort? Er würde wiederkommen und mehr über das Geheimnis um den verborgenen Trail zu erfahren.